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  1. Sie sind Kulturgeragogin: Können Sie den Begriff mit Leben füllen?
    IMG 2242Foto: Uwe Fischer

    Kulturgeragogik hat aktuell eigentlich Konjunktur, da wir in einer Älter werdenden Gesellschaft leben. Der demografische Faktor wird in den nächsten Jahren an Fahrt aufnehmen. Die heute 55- bis 65jährigen Menschen stellen bald die größte Gruppe in unserer Gesellschaft (Quelle bpb). Zudem leben die Menschen heute länger. Eine heute 65-jährige Frau hat u. U. noch eine Lebenszeit von 20 – 30 Jahren vor sich. Wie will sie diese Lebenszeit gestalten?
    Zugleich ist das Altern, sind Lebenslagen im Alter diverser geworden. Kulturelle Vielfalt, soziale Vielfalt – Emanzipation trifft auf Altersarmut.
    Paul Auster sagt, dass Kunst (und zwar alle künstlerischen Sparten) „eine Methode ist, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden."
    Dieser Gedanke ist für Menschen aller Generationen zentral – für jüngere in der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsfindung, für Ältere in der Ermöglichung einer reflektierten, ressourcengestützten Rückschau auf ihr Lebenswerk.
    Kunst- und kulturgeragogische Angebote bieten in diesem Zusammenhang besondere Potenziale: sie ermöglichen Anregung, Öffnung und Reflexion zugleich.
  1. Wie passt Ihre Arbeit mit der von Betreuungsassistenten in Pflegeheimen zusammen?

    Viele meiner Kolleg*innen arbeiten in Pflegeheimen bzw. auch mit demenziell erkrankten Menschen (auch im häuslichen Zusammenhang).
    Ich selbst arbeite zumeist mit Menschen, die auf dem Weg in die Rente sind oder die sich noch in dieser wichtigen Lebensveränderungsphase befinden. Der Gang in die Rente ist eine der dramatischsten Veränderungsphasen im Leben.
    Wie dieser gestaltet wird, kann auch mit darüber entscheiden, wie wir in die Hochaltrigkeit gehen.
    „Wer wissen will, wer er ist, muss wissen, woher er kommt,“ sagt die Biografieforscherin Christina Hölzle
    Die Phase des Ganges in die Rente ist eine gute Zeit zur Selbstverortung: Was war, was wird noch kommen? Was habe ich mal gewollt? Wie ist mein Leben verlaufen? Was möchte ich noch gestalten? Was soll von mir bleiben?
    Mit all diesen Fragen – wenngleich vielfach verdeckt – haben Betreuungsassistent*innen in ihrer Arbeit täglich zu tun. Es liegt in ihrer Kunst, über diese Fragen ins Gespräch zu kommen.

  1. Wie wirken Kunst und Kreativität auf ältere Menschen, die kognitiv vielleicht schon eingeschränkt sind?

    Die Berührung mit Kultur, kulturelle Betätigung tut allen Menschen gut. Musik, Singen, der Umgang mit Farben, Tanzen, Theater weckt Empfindungen und Erinnerungen. Kulturelle Betätigung hilft, ins Gestalterische zu kommen, öffnet Fenster und den Blick auf neue Möglichkeiten. Dies kann sehr inspirierend und auch heilend sein, wenn man sich in diesem Zusammenhang auf seine biografischen Spuren begibt.
    Die Teilhabe an Kunst und Kultur ist verbunden mit dem Gefühl der Zugehörigkeit sowie Sinnhaftigkeit. Das haben Studien unter Älteren v. a. in England und den USA ergeben (AGE UK, Universität Newcastle). Insbesondere Menschen mit kognitiven Einschränkungen bzw. demenziellen Veränderungen profitieren besonders von kultureller bzw. künstlerischer Teilhabe.


  2. Welche Angebote eignen sich für die Arbeit in Einrichtungen?

    Hier gibt es jede Menge Möglichkeiten, die von ganz kleinen inklusiven Ansätzen im persönlichen Gespräch bis hin zu Workshopreihen (Theater, Tanz, Malen, Musik, Bewegung etc.) reichen.
    Für die Arbeit von Betreuungsassistent*innen in Einrichtungen ist es zunächst einmal wichtig, gute Gesprächsanlässe zu finden, die die Biografie der Menschen, mit denen sie zu tun haben, in den Blick nehmen: wie war die Wohnbiografie, wie die Arbeitsbiografie oder die Einkaufsbiografie? Auch schön: die Spielbiografie oder welche Musik, welche Tänze sind in Erinnerung? Aus kleinen Splittern und Erinnerungen formt sich ein Gespräch und ein Bild. Vielleicht schreibt man mal zusammen etwas auf? Vielleicht hört man mal gemeinsam ein Lied oder geht in seine Bewegungsbiografie? Vielleicht versucht man, die Erinnerungen in Farben zu fassen?
    Aus den zusammen getragenen Geschichten und Erinnerungen wird deutlich, was diesem Menschen wichtig war und was ihm / ihr wichtig bleibt.
    Zugleich geht es auch darum, dass Pflegende, Betreuungsassistenten auch sich selbst und ihre eigene Geschichte in den Blick nehmen. Wer sind sie selbst in diesem Prozess? Wie können sie ihre Rolle und Aufgabe gestalten? Erst wenn man sich selbst wahrnimmt, kann man andere wahrnehmen – das ist eine Balance.
    Ich arbeite seit 2012 im Feld der Kulturgeragogik mit vielen diversen Kooperationspartnern. Meine Erfahrung seither: die Fragen und Aufgaben rund um das Thema Kulturgeragogik haben mit Lebensfragen zu tun, die uns täglich begegnen. Die Lebensthemen gehen nicht aus und sind vielfältig; es kommt nur auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit an, diese zu heben. Kulturelle Teilhabe fungiert hier als Türöffner.
    Insofern handelt es sich bei der Kunst- und Kulturgeragogik um eine sehr lebendige Disziplin, die recht neu ist und daher dringend noch bekannter werden muss.

    (Das Interview erscheint in der Nordwest-Zeitung Oldenburg Ende Januar 2023.)
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